Meine Goldlöckchen-Regel für KI in der geistigen Arbeit

Posted by Verarius
13-10-2025

Vor ein paar Wochen haben wir über ein „AI Kit für die Promotion“ gesprochen – eine ausführliche Antwort auf die Frage: „Wie sehr hilft dir KI eigentlich bei der Arbeitsbelastung?“ Diese Frage löste prompt eine weitere aus – mit einem Augenzwinkern: „Und wie viel deiner Dissertation wird dann von ChatGPT geschrieben? “Also schauen wir uns das genauer an: Wann ist KI dein engster Vertrauter – und wann solltest du ihre Hilfe entschieden ablehnen und in die entgegengesetzte Richtung laufen, egal wie freundlich und bemüht sie sich gibt?

Es gibt ein paar Aufgaben, bei denen ich Tools wie ChatGPT oder Claude als unverzichtbar empfinde. KI kann äußerst hilfreich sein, um Schweizer (oder Tilsiter) Käselöcher in meiner Argumentation aufzuspüren. Mein neues Lieblingshobby (und eine hervorragende Form der Prokrastination) besteht darin, das Feedback eines Tools zu nehmen und es einem anderen vorzulegen – mit der Frage, was das jeweils andere übersehen oder falsch verstanden hat. Für mich ist das eine erste Feedback-Ebene, die oft sinnvoll ist und mir und meiner Betreuerin Zeit spart. Ein Teil des KI-Feedbacks ist treffsicher, ein anderer ergibt nur aus einer anderen Perspektive Sinn – dann merke ich, dass ich mich nicht klar genug ausgedrückt habe. Manchmal zwingt es mich auch, in eine andere Richtung zu denken – und bringt mich dadurch auf neue Ideen.

Dann kommt das Thema Textpolitur. Auch wenn MS Word meine Rechtschreibung überprüft und offensichtliche Fehler erkennt, frage ich bei komplexeren Grammatikproblemen gern nach Unterstützung. Zusammengefasst nutze ich KI also als Ersthilfe bei Korrekturen und als Sparringspartner – für Aufgaben, die nicht geistig definierend oder besonders anspruchsvoll sind.

Doch nun zur anderen Seite der Medaille – was ist ein klares No-Go, und warum? Für mich ist die rote Linie dort erreicht, wo es nicht mehr um Feedback oder die Herausforderung meines Denkens geht, sondern darum, mir die kreative Arbeit abzunehmen. Einige Gründe liegen auf der Hand – der erste ist Ethik. Ein weiterer Grund liegt im Wesen geistiger Arbeit selbst: Ich finde sie an sich motivierend und genieße diesen Schuss (kostspieligen) Dopamins, wenn ich es schaffe, eine Idee zu formulieren – wenn ich meinen kleinen privaten Aha-Moment habe. Solche Herausforderungen zu überwinden, ist für sich genommen schon unglaublich befriedigend. Selbst wenn man das für diskutabel hält oder mich einen Masochisten nennt – ich glaube, wir sind uns einig: Geistige Arbeit macht uns klüger, wacher und stärker im Denken. Sie ist das Fitnessstudio für den kleinen Hamster im Kopf, damit sein Fell glänzt, seine Muskeln stark bleiben und er länger lebt – weil genau diese Aktivität ihn am Laufen hält.

Natürlich tun wir manches auch, um greifbare Ziele zu erreichen – etwa die nächste Beförderung oder Gehaltserhöhung. Doch dabei erwarten wir, durch Erfahrung auch bessere Denker und Problemlöser zu werden. Und selbstverständlich hoffen wir, dass wir – selbst wenn Alzheimer eines Tages vorbeischaut – diesen Moment zumindest hinauszögern können, indem wir geistig fit bleiben. Deshalb wäre es eine ziemlich schlechte Idee, diese Erfahrung und dieses „Trainingsmaterial“ leichtfertig aus der Hand zu geben. Denn hier liegt der springende Punkt: Wenn wir die Herausforderung an KI auslagern, lösen wir vielleicht ein kurzfristiges Problem – oder, um es genauer zu sagen, wir drängeln uns vor (und geben eine Arbeit rechtzeitig ab) –, aber wir schaffen ein viel größeres Problem für unser zukünftiges Ich. Eines, das sich in 20 oder 30 Jahren vielleicht nicht einmal mehr an unseren Namen erinnert. Und wir machen Idiocracy damit weniger zu einer Satire und mehr zur Realität. Deshalb bitte ich immer darum, meine Texte nicht vollständig umzuschreiben, sondern mir nur Feedback zu geben.

Um den Punkt zu unterstreichen: Es gibt ein faszinierendes – wenn auch noch junges – Forschungsfeld, das untersucht, wie KI-Tools unser Gedächtnis, unser Denken und unser Lernen beeinflussen. Es wird oft unter dem Begriff meines neuen Lieblingswortes cognitive offloading diskutiert. Ein aktuelles Beispiel ist die Studie mit dem sprechenden Titel „Your Brain on ChatGPT: Accumulation of Cognitive Debt when Using an AI Assistant for Essay Writing Task“.

Wie der Name schon verrät, mussten die Teilnehmenden in dieser Studie einen Aufsatz schreiben. Sie wurden in drei Gruppen aufgeteilt:

  • LLM- / KI-Gruppe: schrieb mit Unterstützung von ChatGPT oder einem ähnlichen Modell
  • Suchmaschinen-Gruppe: nutzte das Internet zur Recherche
  • Nur-Gehirn-Gruppe: schrieb ohne externe Hilfe, allein auf Grundlage des eigenen Wissens.

 

Wenig überraschend unterschied sich die Fähigkeit der Gruppen, sich an den eigenen Text zu erinnern, drastisch. Die Autor:innen beschreiben eine Art „kognitive Schuld“, die entsteht, wenn man zu viel an KI auslagert – mit der Zeit kann diese Abhängigkeit die eigenen geistigen Prozesse schwächen.

Für mich läuft es deshalb bei jeder Interaktion mit ChatGPT, Claude oder ähnlichen Tools auf eine einfache Frage hinaus: Wird mich dieser Prompt dazu bringen, tiefer und intensiver zu denken – oder wird er mir das Denken abnehmen?

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